Project Description
Ein Spaziergang in der Wintersonne
Von Angela Fischer, Februar 2015
Es ist kalt. Die Luft ist klar. Das Licht der Sonne verheißungsvoll.
Der Boden unter meinen Füßen ist gefroren. Es fühlt sich gut an. Klar, direkt, ein Kontakt, der ausrichtet. Die Erde unter mir gibt mir Berührung und federt mich zurück, nimmt mich auf und gibt mich wieder zurück, übergibt mich in eine andere, eine viel größere Welt.
Wie der Atem. Er lässt uns federn zwischen den Welten, zwischen der körperlichen Welt und jenem weiten Land der Seele, wo wir zu Hause sind.
Doch das können wir nur fühlen, wenn wir auch in unserem Körper zu Hause sind, auf dieser Erde. Die Erde unter meinen Füßen, die frostige Grasnarbe, der eisglänzende Schnee, die glasklare Luft, die blendenden Sonnenstrahlen von Westen, und der Vogelschwarm zwischen den klaren Strukturen der unbelaubten Bäume – sie alle rufen mich wach. Sie erinnern mich an den Moment, in dem ich bin, von dem ich ein Teil bin: Geboren in diese Welt, auf dieser Erde wandernd, für eine kurze Zeit…
Von der Seele aus gesehen ist es ein unglaublich kurzer Moment, flüchtig fast, wenn ich mir seiner nicht bewusst bin; wenn ich nicht innehalte und frage: Wo bin ich eigentlich? Was mache ich hier? Wie trete ich in Beziehung zu der Welt, die ich vorfinde?
Ändert die Welt sich durch mein Hiersein? Gewiss.
Ändere ich mich durch die Erfahrung dieses Lebens in dieser Welt? Gewiss.
Auf welche Weise jedoch, in welche Richtung und in welchem Ausmaß – das liegt in der Freiheit unseres Willens und in unserer Bewusstheit.
Das ist eine große Verantwortung. Und doch ist sie nicht zu groß. Sie ist mir angemessen. Zwischen dem Rückzug in eine relative Beziehungslosigkeit zur Welt, mit dem Gedanken „Ich bin zu klein, ich kann doch nichts ausrichten“, auf der einen Seite und der Vermessenheit, ich selbst könne die Welt ändern, ginge ich nur mit der entsprechenden Motivation, dem nötigen Engagement und der richtigen spirituellen Einstellung daran, auf der anderen Seite – dazwischen liegt für uns die kostbare Möglichkeit, unserer tieferen, unserer wahren Natur entsprechend zu leben und so die Sinnhaftigkeit des Lebens zu finden. Und dabei übernehmen wir ganz nebenbei die volle Verantwortung, dieser Welt zu geben, was niemand anders außer uns selbst vollbringen kann.
Wir können die Welt nicht ändern. Der Taoismus lehrt uns:
„Die Welt ist ein heiliges Gefäß. Und nicht etwas, woran man handelt. Wer handelt, scheitert dabei. Wer festhält, verliert´s.“ (Laotse, Tao Te King)
Die Schöpfung ist wie sie ist – vollkommen. Und in der gegenwärtigen Zeit wissen wir nur zu gut, was der Mensch anrichtet, wenn er eingreift.
Aber heißt das, wir sollen nicht träumen, keine Visionen haben von einer besseren Welt? Während meine Füße über diesen frostigen Boden wandern, tauchen mit einem Mal Erinnerungen auf, von einer Zeit, in der das Leben sang, als es keine Trennung gab. Und ich fühle, dass diese Erinnerungen irgendwo noch gegenwärtig sind. Dass die Erde sie in ihrem Innern hält und aufbewahrt. Sie erzählt mir davon, wenn auch nicht durch Worte. Das Licht ist in ihr gespeichert. Da mein Körper ein Teil der Erde ist, ist das Licht auch in meinem Körper gespeichert. Es erzählt von dem, was möglich ist.
Und doch ist alles, was wir uns vorstellen, Illusion. Alles, wovon wir träumen. Auch jede Vision, sei sie noch so tief in einen spirituellen oder mystischen Kontext eingebettet, ist aus der Perspektive des Absoluten eine Illusion. (Was natürlich gar keine Perspektive hat, weil es absolut ist.)
Dahingegen haben wir als menschliche Wesen eine Perspektive, und wir sind relativ; unglaublich relativ. Doch es muss eine Bedeutung geben in diesem Relativ-Sein, in dieser illusionären Wahrnehmung. Bilder, Träume, Erinnerungen … sie alle erinnern uns an eine Wahrheit, die jenseits dieser Schleier verborgen liegt. Die Schleier selbst, die Illusionen, sie sind wirklich und gleichzeitig nicht wirklich. Sie erinnern uns an das Licht, im Innern der Welt und jenseits davon, so dass wir nicht vollständig vergessen, was wir vergessen haben, nachdem wir hierher kamen.
Nennen wir es weibliches Bewusstsein, oder nennen wir es anders – es spielt keine Rolle, wir können es auch menschliches oder göttliches Bewusstsein nennen, oder das, wo die beiden sich treffen. Es ist das tiefe Bewusstsein des Herzens, das weiß, fühlt und lebt, dass Materie, dass die Erde, dass die ganze Schöpfung von Licht durchdrungen ist. Und durch dieses Licht ist alles miteinander verbunden. Wenn die indigenen Völker davon sprechen, dass „alles heilig ist“, dann meinen sie genau das. Und da mittendrin werde ich erinnert – an einem frostigen Februarnachmittag.
An was werde ich erinnert? Und was ist die Verantwortung – nicht zu groß und nicht zu gering – die zu leben wir gebeten sind?
Sie ist nichts anderes als mich in diesem Gewahsein zu beziehen. Mich beziehen auf die Menschen, die mir begegnen, auf die, mit denen ich lebe, auf die Ärgernisse des Alltags, die kleinen und die großen, auf Schmerzen, Verlust, Kummer, Freude, und Geschenke – und auf den Boden, auf dem ich laufe, im Gewahrsein des göttlichen Lichts, das alles durchdringt.
Ich fühle den frostigen Untergrund, er schenkt mir Freude: Ich fühle die Erde schlafend unter kühler Haut, wartend, auf dass die Sonne sie im Frühling weckt. Selbst schlafend trägt sie mich! Und nur wenn ich mich mit ihr verbinde, kann ich meinen Teil hier geben, kann ich meine Verantwortung übernehmen.
Und die liegt nicht im Lesen oder Wiedergeben von spirituellen Texten und Weisheiten – sie liegt nicht einmal darin, etwas zu erkennen, wenn wir darüber lesen, hier oder anderswo. Die Verantwortung liegt darin, das Geschenk des Lebens auf dieser Erde, auf dieser gepeinigten, gebeutelten, geschändeten Erde, zu erkennen und mich mit ihm zu verbinden.
Sie liegt im Staunen angesichts des tiefen Mysteriums, innerhalb dessen sich das Absolute in diese relative Welt spiegelt, dem Anerkennen, dass ich ein Teil davon bin, genau jetzt, in diesem kurzen Moment. Und diesen Teil mit offenen Armen zu umfassen und Ja zu sagen, mit allem, was dazu gehört, und zu wissen, dass danach nichts jemals wieder so sein wird wie es war, weil es Teil der sich ständig verändernden Schöpfung ist. Und so die Chance zu haben, den göttlichen Funken im Innern zu erkennen, der auch Sehnsucht ist. Die Sehnsucht des großen Geliebten, durch meine Augen in diese Welt zu sehen und durch meine Ohren in das Leben zu lauschen – Sich selbst in der Welt erkennend.
An diesem kalten Februarnachmittag fühle ich dieses Leben.
Leben – dieser kurze Moment in der unendlichen Wirklichkeit der Seele, der so viel einfacher ist als wir jemals in unseren Bestrebungen annahmen, und so außergewöhnlich, wie wir es uns niemals hätten ausmalen können – ein Moment, der unendlich kostbar ist: Eine Perle im Ozean der grenzenlosen Liebe.